Wenn Mehrwerte nicht beim Kunden ankommen – Eindrücke von der HMI 2017

Unter dem Leitthema „Integrated Industrie – Creating Value“ lädt die diesjährige HANNOVER MESSE INDUSTRIE (HMI) mit über 6500 Ausstellern in die Messehallen ein. Die beiden Buzzwords „Industrie 4.0“ und „Digitalisierung“ schweben schon seit Jahren als Worthülsen durch den Raum. Sei es als Werbeversprechen großer Messestände wie schon auf der letztjährigen HMI oder der SPS-IPC Drives 2016 in Nürnberg, oder auf den Unternehmens-Internetseiten unter der Rubrik „Lösung“. Die Realität sieht derzeit allerdings vielerorts (noch) anders aus. Nur jedes fünfte Unternehmen in Deutschland ab einer Größe von über 2500 Mitarbeitern beschäftigt sich aktiv mit dem Thema Digitalisierung. Insbesondere im Maschinen- und Anlagenbau ist der Nachholbedarf besonders groß.

Nehmen wir einfach einmal an, dass die Unternehmen ihre Hausaufgaben in Sachen „Digitalisierung“ und „Industrie 4.0“ gemacht haben. Sie haben erfolgreich ihre industrielle Produktion mit modernster Informationstechnik und digitalen Systemen verzahnt, um die gesamte Wertschöpfungskette inkl. Mensch, Maschine, Anlage, Logistik und Produkt zu optimieren. Hier ergibt sich die nächste Herausforderung: Wie werden die vom Unternehmen gepriesenen Lösungen durch den Vertrieb in letzter Konsequenz gegenüber dem Kunden kommuniziert?

Wir von Mercuri International waren ebenfalls zu Gast auf der HMI 2017 und sind der Frage nachgegangen, wie geradlinig das Versprechen der Unternehmen, Lösungen anzubieten durch den Vertrieb umgesetzt werden. Wie bereits oben erwähnt: nahezu jeder Aussteller schreibt sich „Lösungsanbieter“ auf seine Fahne. Schaut man allerdings hinter die Kulissen, gestehen selbst die Vertriebsverantwortlichen großer Industrieunternehmen enormen Nachholbedarf ein. Zu unklar sind konkrete Geschäftsmodelle. Zu gering ist die Investitions-Bereitschaft des Managements in eine umfassende Infrastruktur „Solution Selling“ (hier auch: Value Selling, etc.). Zu eingefahren sind die Vorgehensweisen insbesondere der „alten Hasen“ im Verkauf. Sich von einem Komponentenanbieter zu einem Mehrwertpartner im Vertrieb zu entwickeln, benötigt eine neue strategische Ausrichtung mit direkter Umsetzung und Unterstützung in der Marktbearbeitung. Hier befinden sich weiterhin viele Unternehmen auf einem steinigen Weg.

Die folgenden Statements zeigen aber auch auf, dass die Märkte teilweise noch gar nicht bereit für Lösungen sind; geschweige denn, dafür zu zahlen:

Der Schaltschrankbauer Rittal aus Herborn kann in diesem Kontext als positives Beispiel konsequenter Umsetzung genannt werden. Gemäß des Leitmotivs „Unsere Kompetenz – Ihr Nutzen“ werden Produktkompetenz mit nutzenorientierten Kundenmehrwerten verknüpft. Laut Andreas Keiger, Executive Vice President Sales Europe, ist das Wissen der Verkäufer über die eigenen Verkaufs- sowie die Kundenentscheidungsprozesse elementarer Bestandteil. Auch wenn nicht jeder Nutzen, der für einen Kunden erarbeitet wurde direkt zum Erfolg führt, trägt der Veränderungsprozess zum Lösungsanbieter mehr als nur „erste Früchte“.

Andreas Balack, Leiter Vertriebscontrolling beim Automatisierungsspezialisten Pilz, sieht die Hersteller in der Pflicht, sich mit der „ureigensten“ Sicht des Kunden zu beschäftigen. Seiner Meinung nach werden in vielen Unternehmen der Anspruch des Kunden nicht erfasst und Komponenten nicht in Lösungen integriert. Laut Balack liegt die Ursache aber bereits in der Definition der Unternehmensziele, die nach wie vor Umsatz- aber keine Lösungsziele beinhalten. Wie soll der klassische Vertrieb mit einem Mal Lösungen verkaufen, wenn er es schlichtweg nicht gelernt hat und mangels Management-Support orientierungslos wieder zum Komponenten-Verkauf zurückfällt?

Bei Phoenix Contact (Automatisierung) wurde bereits vor einigen Jahren ein eigenständiger Lösungsvertrieb aufgebaut, so Stephan Frigge, Geschäftsführer der Phoenix Contact Deutschland GmbH. Man hat früh erkannt, dass dem damals bestehenden Vertrieb der Lösungs- und Applikationsansatz nicht aufgezwungen werden kann. Über kurz oder lang würde man an der „Vertriebs-DNA“ des Komponentenverkäufers scheitern. Die Folge war der Aufbau eines Teams aus Vertriebs-Spezialisten mit dem richtigen Skill-Set für die jeweiligen Kunden-Industrien und die Implementierung eines Solution-Selling-Prozesses inkl. aktivitätenbezogener KPIs. Grundvoraussetzung für den komplexen Change zum Lösungsanbieter sei allerdings, so Stephan Frigge, die Investitionsbereitschaft des Managements in Strukturen, Ressourcen und Kompetenzentwicklung.

Ähnlich sieht es Roelof Wittler, Leiter Key Account Management bei Hansa-Flex (Hydraulik-Komponenten). Auch er bemängelt in den meisten Unternehmen die fehlende Infrastruktur für die Umsetzung von Value Selling. Viele Ideen seien zwar vorhanden, so Wittler, allerdings müssten zunächst die Komponenten in Lösungspaketen gebündelt werden, um den „Transferriemen“ zum operativen Vertrieb zu spannen. Zudem fehlen die Kompetenzen des Vertriebs in der gezielten Kundenbearbeitung und die verkäuferischen Optionen in Form von Mehrwerten. Interessant ist auch seine Sichtweise, dass viele Kunde noch nicht bereit seien für vermeintlich teurere Lösungen. Hier schließt sich der Kreis: wo kein sichtbarer Mehrwert für den Kunden, da keine Bereitschaft höhere Preise.

Frank Rohn, Vice President Sales Automation bei Turck (Industrieautomation), findet deutlichere Worte. Für ihn hat ein Großteil der Anbieter, trotz aufwändiger Marketingmaßnahmen und Werbebotschaften, kein sauber durchdachtes, durchgängiges und kommuniziertes Geschäftsmodell zur Vermarktung von Industrie 4.0. Seiner Ansicht nach verfallen die Hersteller in Aktionismus und „preschen“ auf den Kunden los mit der Frage, was der Kunde will. Das sei zu kurz gegriffen, so Frank Rohn. Zum einen weil in vielen Unternehmen die Basis in Form von Strategie, Strukturen, Prozessen, Veränderungsbereitschaft und Kompetenzen fehle. Zum anderen, da der Kunde teilweise selber gar nicht wisse, was er will. Und zu allem Überfluss müsse der Außendienst nun etwas verkaufen, was man nicht anfassen kann.

Zu viel Aktionismus in der operativen Marktbearbeitung sieht auch Dietrich Eberhardt, Vertriebsleiter Deutschland bei Kaeser Kompressoren. Anstatt strukturiert und in kleinen Schritten die Umsetzung zu beginnen, würden die Vertriebsmitarbeiter vielerorts ins kalte Wasser geschmissen und müssten „von heut auf morgen“ Lösungen verkaufen. Ähnlich wie Frank Rohn (Turck) fehlen ihm durchgängige Geschäftsmodelle ausgehend vom Management. Die größte Herausforderung sieht Eberhardt in der Gestaltung und Implementierung eines lückenlosen Marktbearbeitungsprozesses, der das Produkt in die Ausgestaltung der Kundenlösung integriert. Und hier liegt seiner Meinung nach die Crux: ohne Lösungsdefinition kann keine Anforderung an die Entwicklung und Herstellung des Produktes gestellt werden. Die Unternehmen „schwimmen“ zwischen Mechanik, IT, Kundennutzen und Vertrieb. Wäre ein Geschäftsmodell „Industrie 4.0“, sowie ein strategiekonformer Vertriebsprozess inklusive Kennzahlen vorhanden, könne der Vertrieb anhand von Anforderungsprofilen gezielt geschult werden. Derzeit sei Industrie 4.0 noch zu kompliziert für den Außendienst. Der zeitliche Aufwand zur Erarbeitung von Kundenlösungen schreckt zudem die Verkäufer ab. Aktivitäten und Verkaufsprovision müssten demnach im Rahmen des Kennzahlensystems abgebildet werden.

Für Friedrich Greule, Vertriebsleiter bei Balluff (Industriesensorik), sind strategische Allianzen mit bspw. spezialisierten Software-Unternehmen zwingend notwendig, da die Entwicklung und Vermarktung komplexer Lösungen „aus der eigenen Denke“ nicht realisierbar seien. Ohne Kooperationspartner würde man dauerhaft an traditionellen Produkten festhalten – nicht nur der Vertrieb, sondern das gesamte Unternehmen. Auch Friedrich Greule sieht das Management in der Pflicht, die Voraussetzungen für eine reibungslose Unterstützung im Vertrieb zu schaffen. Wer es im Management nicht lebt, könne es seiner Meinung nach nicht vom Vertrieb verlangen.

„Die Idee Industrie 4.0 ist gut, aber die Unternehmen kommen einfach nicht hinterher“, so beschreibt es Dr. Thomas Christmann, Manager International Sales bei WAGO Kontakttechnik. Seiner Meinung nach ist es leicht, eine Vielzahl von Daten in die Cloud (hier: ein Beispiel) zu bekommen. Es ist umso schwerer, aus den Daten einen Mehrwert für den Kunden zu generieren. Die Bereitschaft in Lösungen zu investieren, sei noch sehr zurückhaltend. Hier steht der Effizienzzuwachs durch Industrie 4.0 in einem Missverhältnis zur Investition durch den Kunden. Aus seiner Sicht seien insbesondere mittelständische Maschinenbauunternehmen gar nicht in der Lage, aus „eigener Kraft“ und ohne Software-Allianzen eigene IT-Daten kundengerecht zu verarbeiten (siehe Friedrich Greule von Balluff). Dr. Christmann schmunzelt: „Eigentlich müsste man die HMI und die Cebit als Messe zusammenlegen“. Als Vorreiter bei der konsequenten Umsetzung und Vermarktung von Industrie 4.0 sieht Christmann die großen Industrieunternehmen, die sowohl Ressourcen als auch das Know-how bereitstellen können. Sind die Grundvoraussetzungen in Form von Ressourcen und eines strategischen Konzeptes nicht vorhanden, können weder Lösungen, noch Prozesse definiert werden. Und wie soll der Vertrieb Lösungen verkaufen, wenn diese noch nicht einmal im Angebotsprozess abgebildet seien? Christmann lacht wieder.

Fassen wir noch einmal zusammen: So unterschiedlich die Ansichten der Gesprächspartner auf den ersten Blick sein mögen, in einem Punkt sind sich alle einig: Die Vermarktung von Industrie 4.0 beginnt in einem strategischen, schlüssigen Geschäftsmodell inklusive Prozesse, Tools und Steuerung und mündet in der strategie- und prozesskonformen Kompetenzentwicklung der Vertriebsorganisation. Es wäre falsch, dem Vertrieb den „schwarzen Peter“ zuzuschieben, wenn dem Verkäufer nicht das Rüstzeug und die entsprechende Tool-Box zur gezielten Marktbearbeitung zur Verfügung gestellt würden. Hier ist zunächst die oberste Unternehmensführung gefordert, dann der Vertrieb.